Die Zielsetzung des Systems verändern: Ein Gespräch mit Dan O'Neill über die Abkehr vom Wirtschaftswachstum und die Verwirklichung eines Wandels hin zu 1,5° Lebensstilen

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Ein Schmetterling streckt die Flügel neben verpuppten Schmetterlingseiern
2022-09-09

Der neuste Bericht des Weltklimarats betont die Notwendigkeit, die Erderwärmung auf 1,5° zu begrenzen. Vor diesem Hintergrund haben wir uns mit Dan O'Neill zusammengesetzt, um das Thema des transformativen Wandels, die (Grenzen des) Wirtschaftswachstums und die Frage zu erörtern, inwiefern die 1,5° Lebensstile zu „einem guten Leben für alle" führen können. Im Folgenden haben wir die wichtigsten Erkenntnisse aus unserem Gespräch zusammengefasst.

Dan O'Neill ist außerordentlicher Professor für Ökologische Ökonomie an der Universität Leeds. Seine Forschung konzentriert sich auf die Beziehungen zwischen Ressourcennutzung und menschlichem Wohlbefinden sowie auf die Veränderungen, die für eine erfolgreiche Postwachstumsökonomie erforderlich wären. O‘Neills bahnbrechende Forschung zu einem guten Leben für alle Menschen innerhalb der planetarischen Grenzen wurde in Nature Sustainability und als Buch (Enough Is Enough: Building a Sustainable Economy in a World of Finite Resources) veröffentlicht. O‘Neill ist außerdem Präsident der Europäischen Gesellschaft für ökologische Ökonomie und veranstaltet eine sehr beliebte Online-Vortragsreihe über ökologische Ökonomie. Weitere Informationen über seine Arbeit finden Sie auf seiner Webseite.

Wirtschaftswachstum – eine strukturelle Barriere

Der jüngste Bericht des Weltklimarates verdeutlicht den engen Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltzerstörung. Die Art und Weise, wie wir derzeit Fortschritt und Erfolge messen (als Steigerung der Produktion oder als BIP = Bruttoinlandsprodukt), ist zutiefst fehlerhaft. O‘Neill schlägt vor, neue Erfolgsindikatoren und -maßstäbe einzuführen: "Ich bin der Meinung, dass es uns wirklich helfen würde, wenn wir unser Maß für den Fortschritt in der Gesellschaft vom BIP wegbewegen könnten. Es geht darum, das Ziel zu ändern. Dieser Ansatz ist inspiriert von Donella Meadows Arbeit und ihrer Idee der Hebelpunkte - Punkte, an denen man in einem System eingreifen kann. Ändert man nur einige Parameter im System, hat das keine große Wirkung, wenn man jedoch in der Lage ist, die Ebene zu erreichen, auf der das System tatsächlich versucht das zu tun, für was es existiert, dann kann eine Änderung dort eine enorme Wirkung haben, weil sie sich durch das gesamte System zieht." Er fügt hinzu: "Das Wirtschaftswachstum ist [in unserem System] durch Narrative und Messweisen institutionalisiert. Ich denke also, dass es sehr wichtig ist, dies zu ändern".

O‘Neill erklärt, dass es schwierig ist, Veränderungen zu erzielen, auch wenn sie dringend notwendig wären, da das Ziel des Wirtschaftswachstums eine sehr tiefgehende Struktur in unseren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systemen darstellt. Seine eigenen Erfahrungen mit der politischen Entscheidungsfindung von Parteien im Vereinigten Königreich waren kompliziert. Einzelne Akteure haben zwar Verständnis für die wissenschaftlichen Hintergründe der Umweltkrisen und für die Notwendigkeit vom Wirtschaftswachstum wegzukommen, aber es ist wirklich schwer für einen Politiker, sich hinzustellen und zu sagen: „Wir werden uns nicht mehr auf das BIP-Wachstum konzentrieren. Wir werden uns auf diese andere Sache konzentrieren". Denn sie befürchten, dass sie von der Opposition in der Luft zerrissen werden, die sagen wird: „Nun, der Grund, warum ihr euch nicht darauf konzentrieren wollt, ist, dass ihr es nicht schafft!"

Trotz allem gibt es Möglichkeiten, Veränderungen herbeizuführen und die Strukturen des Wirtschaftswachstums in Frage zu stellen, um eine Transformation hin zu 1,5° Lebensstilen zu erreichen.

„Eines der wichtigsten Dinge ist es, den Menschen tatsächlich zu zeigen, wie die Alternative aussehen würde, und zu zeigen, dass es eine wünschenswerte Alternative ist.“

O‘Neill stimmt zu, dass neue gesellschaftliche Ziele auf neuen, alternativen Visionen von Wohlstand - oder 1,5° Lebensstilen - beruhen müssen, die einen Ausweg aus dem derzeitigen System bieten. Diese positive und wünschenswerte Narrative eines guten Lebens innerhalb der planetarischen Grenzen ist der Schlüssel. Er schlägt vor, dass dies auch den Rahmen für Diskussionen über den gesellschaftlichen Wandel bilden sollte.

„Als ich anfing, mich mit diesem Thema zu beschäftigen, hielt ich Vorträge über die Grenzen des Wachstums, die Probleme des Wachstums und darüber, was wir dagegen tun können. Was wir dagegen tun könnten war immer das, was die Leute am meisten interessierte. Und so habe ich mit der Zeit immer weniger über die Grenzen des Wachstums gesprochen und mich mehr und mehr mit der Frage beschäftigt, wie die Alternative aussehen könnte. Das war immer die Frage. Wenn man nicht in der Lage ist, diese Alternative anzubieten, dann kommt man nicht weiter. Eines der wichtigsten Dinge ist es, den Menschen zu zeigen, wie die Alternative aussehen würde, und zu zeigen, dass es eine wünschenswerte Alternative ist. Und wenn man das zeigen kann, können sich die Menschen hinter diese Idee stellen.“

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"Eines der wichtigsten Dinge ist es, den Menschen tatsächlich zu zeigen, wie die Alternative aussehen würde, und zu zeigen, dass es eine wünschenswerte Alternative ist."

Wie können wir "die Zielsetzung des Systems ändern"? Vorschläge für politische Veränderungen:

1. O‘Neill schlägt vor, sich für eine Änderung der Sprache und Begriffe einzusetzen, die in der Gesellschaft im Zusammenhang mit Wirtschaft verwendet werden. „Anstatt von Wirtschaftswachstum zu sprechen, sollten wir eine andere Sprache verwenden.“ Zum Beispiel könnten wir stattdessen den Begriff „wirtschaftlicher Fortschritt“ verwenden. Laut O’Neill sei sogar der Begriff „Entwicklung“ besser, weil er nicht Wachstum im Sinne eines zunehmenden Verbrauchs physischer Ressourcen bedeutet, wie es bei „Wirtschaftswachstum“ der Fall ist.

2. Die Sprache rund um die Wirtschaft zu ändern bedeutet auch, andere Indikatoren zu verwenden, wenn es um „Fortschritt“ in der Wirtschaft geht, und das BIP als Maßstab zu vermeiden. Andere Indikatoren können sein: Wohlergehen, Beschäftigung, Gleichberechtigung, Umweltindikatoren wie Materialverbrauch oder CO2-Emissionen, um eine Vielzahl verschiedener Aspekte zu erfassen, die anzeigen, wie gut es einer Gesellschaft geht.

3. Der Fokus auf diesen anderen Indikatoren und das Vorantreiben von politischen Maßnahmen in diesen Bereichen kann uns allmählich vom Streben nach Wirtschaftswachstum abbringen. Diese Methode funktioniert ähnlich wie das „trojanische Pferd“: „Wenn wir ein universelles Grundeinkommen einführen oder die Arbeitszeit verkürzen (oder zumindest Maßnahmen ergreifen, die es den Menschen erleichtern, ihre Arbeitszeit selbst zu bestimmen), würden diese Maßnahmen den Wachstumsimperativ innerhalb des Systems schwächen und es uns leichter machen, vom Wachstum wegzukommen.“

4. Wir müssen Druck auf die Politiker*innen ausüben, damit sie diese Maßnahmen umsetzen und Führungsqualitäten beweisen. Aber auch die Zivilgesellschaft muss eine Rolle spielen, wenn es darum geht, den Diskurs über Themen des Wohlergehens zu normalisieren und auf Veränderungen zu drängen. Dazu können beispielsweise Maßnahmen wie die 4-Tage-Woche gehören. Wie O‘Neill erklärt, werden viele der Maßnahmen, die uns weg vom Wachstumsimperativ und hin zu Wohlergehen und 1,5° Lebensstilen führen, bereits in verschiedenen Ländern und lokalen Kontexten auf der ganzen Welt umgesetzt, was es den politischen Entscheidungsträger*innen erleichtert, die „First-Mover“-Hürde zu überwinden.

5. Wir können auch aus der Geschichte und vergangenen Transformationen lernen: Krisen waren in der Vergangenheit eine Zeit des gesellschaftlichen Wandels. „Krisen sind ein Interventionspunkt, an dem Dinge sehr schnell passieren. Lange Zeit hat sich nichts wirklich verändert, und dann kann es plötzlich ganz schnell gehen. Diese Art des Wandels ist nicht linear“. O‘Neill erklärt, dass wir viel von der neoliberalen Revolution der 1970er bis 1980er Jahre lernen können, als konservative Kräfte und Wirtschaftsakteure in den USA eine konzertierte Aktion durchführten, um die Macht der Gewerkschaften und sozial fortschrittlicher Kräfte zu brechen, die sie als Bedrohung für die Wirtschaftsinteressen ansahen. Diese Akteure „warteten nur auf eine große Krise, während sie alle Ideen und politischen Maßnahmen bereits in der Schublade hatten.“

6. O‘Neill zufolge mangelt es derzeit an politischer Kohärenz innerhalb der verschiedenen zivilgesellschaftlichen Kräfte und Umweltgruppen, wenn es um die Richtung des Wandels geht, der für einen 1,5° Lebensstil erforderlich ist. O‘Neill erklärt, dass es zwar unter vielen verschiedenen progressiven Gruppen einen breiten Konsens über die Notwendigkeit eines Wandels in Richtung Nachhaltigkeit gibt, diese Botschaft aber durch „zu viele Leute, die in verschiedene Richtungen laufen“, gedämpft wird. Als Mitglieder der Zivilgesellschaft müssen wir versuchen, uns so weit wie möglich „hinter eine einzige, einfache Botschaft zu stellen“. Dazu gehört auch, dass wir verschiedene Denkansätze und progressive Diskurse über die Umweltkrisen zusammenführen. 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es möglich ist, das gesellschaftliche Wohlergehen zu verbessern und gleichzeitig unsere Umweltauswirkungen zu verringern. Dazu bedarf es tiefgreifender sozialer, politischer und wirtschaftlicher Veränderungen in der derzeitigen Organisation des gesellschaftlichen Wohlstands. Die obigen Vorschläge sind nur ein Ausgangspunkt für die weitere gesellschaftliche Diskussion darüber, wo wir stehen und wohin wir wollen.

Halliki Kreinin, WWU Münster

Bilderquellen:
Banner - Håkon Grimstad,
Foto von Dan O'Neill - privat.